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lutzbastian

Wiederentdeckung nach über 100 Jahren: Karl Opfermanns "Junge Mutter"

Nur wenigen, bibliophilen Interessierten der Hamburger Kunstszene zwischen den Weltkriegen dürfte diese Skulptur bekannt sein. Karl Lorenz bildete die Junge Mutter von Karl Opfermann aus dem Jahr 1920 neben weiteren Skulpturen in seinem ersten Band der zweiten Folge Die Rote Erde (1922) ab.


Die Silhouette des Körpers wurde nur andeutungsweise aus der Stelenform des Zedernholzes gelöst, der Rest - Kopf, Füße, Hände und Brust - in kubistischer Manier reduziert. Das Kind in den Händen der Mutter sowie ihr Gesicht sind stark expressiv gestaltet und dennoch detailliert, beide blicken uns direkt an. Die weit aufgerissenen, hungrigen Augen der Jungen Mutter fixieren uns und nur ihr subtil angedeutetes Lächeln kann die Starre lösen. Der Blick schweift hinunter zum Kind, welches uns gänzlich ohne Mimik aber mit ebenso weit geöffneten Augen anblickt, während der Körper den Schutz der Mutter sucht.

Karl Opfermann schuf mit dieser Skulptur weniger eine Marien-Darstellung, wie man sie vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte, als vielmehr eine Allegorie der Mutter, der 'Maternité' (der Begriff 'Mutterschaft' kommt im deutschen Sprachgebrauch der Kunstgeschichte kaum vor, daher gebrauchen wir den französischen Genre-Begriff). Die 'Maternité' weist weit über ein religiös verklärtes 'Mutterglück' hinaus auf Liebe, Schmerz, Verwundbarkeit und Intimität. Hiervon wird zukünftig noch an anderer Stelle die Rede sein.


Opfermanns Junge Mutter wurde vermutlich erstmals auf der zweiten Ausstellung der Hamburgischen Sezession 1921 in den Räumen des Kunstvereins in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt. Der Katalog listet die Skulptur neutral als Holzrelief "Mutter mit Kind" mit vier weiteren Skulpturen sowie Zeichnungen und Holzschnitten des Künstlers. Aus dieser Ausstellung heraus muss die Skulptur verkauft worden sein an die Familie, in deren Besitz sie bis heute erhalten blieb.


Die Familie Ganz war eine alt eingesessene und in Köln hoch angesehen Familie von Buchhändlern, die bis 1934 die Lengfeld'sche Buchhandlung - damals die größte in Köln - als Familienbetrieb leitete. Ein Bruder des Familienoberhauptes Alexander Ganz, Paul Ganz, lebte in Hamburg und bildete vermutlich die Brücke zur dortigen Kunstszene. Mit dem Umzug der Buchhandlung innerhalb der Stadt 1919 wurde bspw. der damals in Hamburg ansässige Maler Bernard Schumacher (1872 - 1932) mit einem Wandgemälde beauftragt. Weiterhin gab es ein Gemälde von Carlo Mense (1886 - 1965) in der Buchhandlung. Bestrebungen, den Betrieb auf das Verkaufen von Kunst auszuweiten, wurden jedoch bald verworfen. In dieser Zeit muss auch die Skulptur Opfermanns von der Familie Ganz angekauft worden sein, Lorenz gibt in seiner Veröffentlichung von 1922 bereits den Zusatz "Privatbesitz" an.

Beate Maillé, geb. Ganz und Tochter des Geschäftsführers in zweiter Generation, Karl-Justus Ganz, schildert in Ihrer Geschichte für Joanna (in: Brigitte Bilz/Fritz Bilz (Hrsg.): Die Familie Ganz und die Lengfeld’sche Buchhandlung. Lebensgeschichten einer jüdischen Buchhändlerfamilie, Köln 2020) anschaulich, wie sich das Leben ihrer jüdischen Familie 1933 - aus ihrer damals jugendlichen Sicht schlagartig - veränderte. Schon im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten entschied sich Karl-Justus Ganz zu dem mutigen Schritt, das Land mit seiner gesamten Familie zu verlassen. Das Geschäft konnte einem als 'arisch' geltenden Teilinhaber einvernehmlich überschrieben werden und so war es der Familie möglich, in Fontenay-aux-Roses bei Paris ein Haus zu kaufen und mit sämtlichen Besitztümern relativ geordnet im Sommer 1934 aus Deutschland zu fliehen. Die Familie hatte in den kommenden fünf Jahren vor Kriegsbeginn Zeit, sich einzuleben und Kontakte zu knüpfen. Als die deutschen Soldaten aber Richtung Paris vorrückten, wurden einige Familienmitglieder, darunter auch Beate, als womögliche Spione in unterschiedlichen Internierungslagern im Süden des Landes inhaftiert und erst nach einem Waffenstillstand fand sich die Familie im Juli 1940 in Auriac-sur-Dropt wieder auf freiem Fuß zusammen. Sie lebten bescheiden aber in Freiheit und so konnte Beate 1942 in Toulouse einen Kurs zu künstlerischer Gestaltung besuchen.  Eine Ton-Maske aus ihrer Hand, heute im Besitz des Herausgebers Dr. Fritz Bilz, zeigt verblüffende Ähnlichkeit zu Opfermanns Jungen Mutter.


1943 hatte Deutschland eine 'Marionettenregierung' in Paris installiert, durch dessen Handlanger reihenweise Juden denunziert, deportiert und ermordet wurden. Auch Beate und eine Freundin wurden verschleppt und sollten deportiert werden. Nur weil Karl-Justus Ganz den Beweis erbringen konnte, dass das Einbürgerungsverfahren schon vor Kriegsbeginn angestoßen wurde, konnte sie wieder befreit werden. Hiernach tauchte die Familie unter und floh nach Spanien, wo sie sich als Kanadier und Engländer ausgaben, um unter dem Schutz der jeweiligen Länder weiter bis nach Marokko zu fliehen, wo sie bis Kriegsende blieben. Hier lernte Beate Jean Maillé kennen, den sie 1944 noch im Exil heiratete und dem Sie 1945 zurück nach Paris folgte. In tiefer Dankbarkeit konnte die Familie einige ihrer Habseligkeiten, darunter auch die Skulptur Opfermanns, von wohlgesinnten Nachbarn in Fontenay zurückerhalten und in Saint-Cloud westlich von Paris wagte sie einen Neubeginn. Später ging eine Tochter Beates, Claire, nach Montreal (Kanada) und nahm ihre Mutter nach dem Tod des Vaters mit den geretteten Besitztümern der Familie Ganz zu sich. So Gelangte Karl Opfermanns Junge Mutter schließlich nach Montreal, wo sie bis zuletzt bei Joanna H., Beates Enkeltochter, der ihr oben wiedergegebener Bericht gewidmet ist, gehütet und geliebt wurde.


Dank der unglaublichen Großzügigkeit Joannas und ihrer Familie konnte die Skulptur nun zurück nach Deutschland überführt werden und steht damit nicht zuletzt diesem Forschungsprojekt zur Verfügung. Diese Skulptur stellt nicht nur ein frühes Hauptwerk Karl Opfermanns dar, welches dem Bildersturm der Nazis gegen die sogenannte „entartete Kunst“ entfliehen konnte, sie erzählt auch eine von unzähligen, erschütternden Familiengeschichten der Jahre ab 1933 und birgt dennoch den Funken der Hoffnung: wie die Familie Ganz konnte die Skulptur der Vernichtung entkommen.





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This sculpture is probably only known to a few bibliophiles interested in the Hamburg art scene between the world wars. Karl Lorenz depicted Karl Opfermann's Young Mother from 1920 alongside other sculptures in his first volume of the second series Die Rote Erde (1922).

The silhouette of the body was only vaguely detached from the stele shape of the cedar wood, the rest - head, feet, hands and chest - reduced in a cubist manner. The child in the mother's hands and her face are strongly expressive yet detailed, both looking directly at us. The wide-open, hungry eyes of the Young Mother fixate us and only her subtly implied smile can break the stare. The gaze wanders down to the child, who looks at us without any facial expression but with equally wide-open eyes, while the body seeks the mother's protection.

With this sculpture, Karl Opfermann created less a depiction of the holy Mary, as one might expect at first glance, and more an allegory of the mother, the Maternité. Maternité points far beyond a religiously glorified "mother's happiness" towards love, pain, vulnerability and intimacy. This will be discussed elsewhere in the future.


Opfermann's Young Mother was probably first exhibited at the second exhibition of the Hamburg Secession in 1921 in the rooms of the Kunstverein in the Hamburger Kunsthalle. The catalog lists the sculpture neutrally as a wooden relief "Mother with Child" with four other sculptures as well as drawings and woodcuts by the artist. The sculpture must have been sold out of this exhibition to the family in whose possession it remained until today.


The Ganz family was a long-established and highly respected family of booksellers in Cologne, who ran the Lengfeld'sche Buchhandlung - the largest bookshop in Cologne at that time - as a family business until 1934. A brother of the head of the family Alexander Ganz, Paul Ganz, lived in Hamburg and presumably formed the bridge to the art scene there. When the bookshop moved within the city in 1919, for example, the painter Bernard Schumacher (1872 - 1932), who was based in Hamburg at the time, was commissioned to paint a mural. There was also a painting by Carlo Mense (1886 - 1965) in the bookshop. However, efforts to expand the business to include selling art were soon abandoned. The sculpture by Opfermann must also have been purchased by the Ganz family at this time, as Lorenz already states "private property" in his 1922 publication.


Beate Maillé, née Ganz and daughter of second-generation managing director Karl-Justus Ganz, vividly describes in her Story for Joanna (in: Brigitte Bilz/Fritz Bilz (Hrsg.): Die Familie Ganz und die Lengfeld’sche Buchhandlung. Lebensgeschichten einer jüdischen Buchhändlerfamilie, Köln 2020) how the life of her Jewish family changed abruptly in 1933 - from her then youthful perspective. In the very year the Nazis seized power, Karl-Justus Ganz decided to take the courageous step of leaving the country with his entire family. The business was transferred by mutual agreement to a partial owner who was considered "Aryan", enabling the family to buy a house in Fontenay-aux-Roses near Paris and flee Germany with all their possessions in the summer of 1934. The family had time to settle in and make contacts over the next five years before the war began. However, as the German soldiers advanced towards Paris, some family members, including Beate, were imprisoned as possible spies in various internment camps in the south of the country and it was only after an armistice that the family was reunited at liberty in Auriac-sur-Dropt in July 1940. They lived modestly but in freedom and so Beate was able to attend a course in artistic design in Toulouse in 1942.  A clay mask from her hand, now in the possession of the publisher Dr. Fritz Bilz, bears a striking resemblance to Opfermann's Young Mother.

In 1943, Germany had installed a "puppet government" in Paris, whose henchmen denounced, deported and murdered hundreds, if not thousands of Jews. Beate and a friend were also abducted and were to be deported. It was only because Karl-Justus Ganz was able to prove that the naturalization process had been initiated before the start of the war that they were freed. The family then went into hiding and fled to Spain, where they posed as Canadians and Englishmen in order to flee to Morocco under the protection of the respective countries, where they remained until the end of the war. It was here that Beate met Jean Maillé, whom she married in exile in 1944 and whom she followed back to Paris in 1945. In deep gratitude, the family was able to get back some of their belongings, including Opfermann's sculpture, from well-meaning neighbors in Fontenay and they ventured a new start in Saint-Cloud, west of Paris. Later, one of Beate's daughters, Claire, went to Montreal (Canada) and took her mother to live with her after her father's death, together with the Ganz family's rescued possessions. This is how Karl Opfermann's Young Mother finally ended up in Montreal, where she was cared for and loved by Joanna H., Beate's granddaughter, until today.


Thanks to the incredible generosity of Joanna and her family, the sculpture has now returned to Germany and is therefore available for research and our project as well. This sculpture not only represents an early major work by Karl Opfermann, which was able to escape the Nazi iconoclasm against so-called "degenerate art", it also tells one of the countless harrowing family stories of the years after 1933 and yet holds a spark of hope: like the Ganz family, the sculpture was able to escape destruction.

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